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We will survive! Ein Plädoyer für den realistischen Optimismus

von Nikolaus Röttger
Erleben wir bald den Weltuntergang oder wird alles gut? Diese Zukunftsfrage treibt viele um, auch hier bei WIRED: Chefredakteur Nikolaus Rötger glaubt an ein Happy End. In seinem Essay erklärt er, warum er trotz Trump, Terror und Klimawandel ein „realistischer Optimist“ bleibt.

Dieser Artikel stammt aus WIRED-Ausgabe 01.2017. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die WIRED-Artikel lesen, bevor sie online gehen: Hier könnt ihr unser Magazin testen.

Alles wird gut: Ein kleiner, dreijähriger Junge in grünem Wollpullover rennt im Februar jauchzend hinter Tim her, einem 1,50 Meter großen selbstfahrenden Roboter mit blaugrünem Körper. Auf dem Hals sitzt eine durchsichtige Plastikkugel als Kopf, darin zwei große Kulleraugen. Seit November wohnt der 75-Kilo-Roboter im Berliner Technikmuseum und führt Gäste eigenständig durch die Ausstellung Das Netz. Menschen, Kabel, Datenströme. Mithilfe eines Tablets an Tims Rückseite lässt sich eines der zwölf eingespeicherten Ausstellungsstücke auswählen, dann fährt Tim dorthin. Hinter ihm kommt der Dreijährige angerannt, umklammert den Roboter und lässt sich fröhlich hinterherziehen.

Die Zukunft, sie ist längst da: „Service-Roboter wie mich gibt es immer mehr“, sagt Tim. Wir können sie nicht aufhalten: Tim fährt sanft, aber bestimmt weiter. Wir können sie steuern, wenn wir sie richtig programmieren: Tim fährt zu einem roten Wählscheibentelefon. Und sie kann sehr viel Spaß machen, wenn wir sie umarmen, so wie der Junge den Roboter. Alles wird gut.

Oder? Ist Optimismus in diesen Zeiten nicht genauso naiv wie der Dreijährige? Hat „Hope“ sich nicht gerade erst mit Barack Obama in den Ruhestand verabschiedet? Stattdessen Brexit, Terror, Trump. Der US-Präsident baut Mauern und will den Klimawandel abschaffen, indem er ihn von den Regierungswebsites löscht. Das Internet ertrinkt in Fake News. Selbstfahrende Elektroautos gefährden die Jobs von Taxi-Fahrern und Tankstellen-Besitzern. Einer der Verantwortlichen, Tesla-Chef Elon Musk, warnt vor den Gefahren einer Künstlichen Intelligenz (KI), die deutlich schlauer als Menschen sein könnte, und sagt voraus, dass wir alle bald vernetzte Cyborgs sein werden. 

Ein lautes Fuck you! schleuderte ein Autor der Zeit jüngst in Richtung Silicon Valley. Er polterte gegen die Selbstverliebtheit, die er bei den Tech-Milliardären erkennt. Sie würden die Probleme, deren Lösung die Welt tatsächlich verändern würde, gar nicht erst bearbeiten. Soziale Ungerechtigkeit etwa oder die Erwärmung des Humboldt-Stroms.

Stimmt natürlich nicht, drei Beispiele: Microsoft-Gründer Bill Gates kämpft mit seiner Stiftung gegen Hunger, Armut, Malaria. Im Dezember hat er sich mit Jeff Bezos (Amazon) und Jack Ma (Alibaba) zusammengetan, um in Lösungen zu investieren, die den Klimawandel verlangsamen. Woran Musk auch arbeitet: Tesla hat gerade die  hawaiianische Insel Kauai mit einer Solaranlage und Superbatterien, den Powerpacks, ausgerüstet, um die Insel unabhängig von Brennstoff und Generatoren zu machen. Und der Biohub von Facebook-Chef Mark Zuckerberg und dessen Frau Priscilla Chan hat im Februar 50 Millionen Dollar an medizinische Forschungseinrichtungen gegeben. 

Aber so verläuft die Diskussion im Augenblick: Einerseits Fuck you und Angst und Wut gegen die Digitalisierung, im amerikanischen Rust Belt genauso wie in den deutschen Zeitungen. Auf der anderen Seite götzenhafte Verehrung von Technologie als Heilsbringer. Pro und kontra, schwarz und weiß, eins und null. Polarisierung ohne Ende. Als ob die Welt binär ist. So denken doch nur Computer! Die alten.

Die neuen Quantencomputer, an deren Erfindung gearbeitet wird, können schneller rechnen. In ihnen können Teilchen, wie etwa Elektronen, gleichzeitig eins und null sein; erst im Augenblick der Messung lassen sie sich auf einen ihrer beiden Zustände festlegen, Spin Down oder Spin Up.

Im – zugegebenermaßen sehr – übertragenen Sinne: Es kommt auf den Moment der Betrachtung an, ob die Welt null oder eins, negativ oder positiv ist. Aber warum sollte uns ein Spin Up nicht gelingen? Wir Menschen können doch eigentlich Optimismus. Wenn es um uns selbst geht, glauben wir, dass wir für immer verheiratet sein werden und die schlausten Kinder bekommen, aber auf keinen Fall einen Herzinfarkt. Je weiter aber die Ereignisse von unserem Einflussbereich weg sind – etwa die Abstraktheit der Digitalisierung oder die Nachrichtenlage –, desto eher neigen wir zu „Oh Gott, oh Gott, die Welt geht unter“.

Beides ist irrational. Wenn es um das Private geht, sind wir Gefangene eines optimism bias. Wir glauben in unrealistischer Zuversicht, dass alles besser wird, als es wohl wird: 40 Prozent der Ehen werden hierzulande geschieden, Herzkrankheiten sind die häufigste Todesursache, nicht alle Kinder sind die schlausten.

Wir übertreiben mit unseren Sorgen. Es war früher nicht alles besser!

Für die Sicht auf den gesellschaftlichen Wandel gilt umgekehrt: Wir übertreiben mit unseren Sorgen. Es war früher nicht alles besser! „Die meisten Menschen denken selten daran, doch in den letzten Jahrzehnten ist es uns gelungen, Hunger, Krankheit und Krieg im Zaum zu halten“, preist der Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch Homo Deus den Fortschritt. 

Ist also alles gut? Nun, zumindest haben die Menschen Fortschritte gemacht. Es ist nicht alles düster, wie der Pessimist behauptet. Doch ist es natürlich bei Weitem nicht perfekt. Künstliche Intelligenz wird eine Herausforderung, Roboter werden Jobs übernehmen, das Internet wird nicht nur zum Kochrezepte-Austauschen genutzt, sondern auch zur Überwachung, wie einmal mehr die jüngste Wiki­leaks-Veröffentlichung zu den Praktiken der CIA zeigt.

Es mag in Europa Frieden herrschen, aber in Syrien tobt ein erbitterter Krieg. Noch immer verhungern Menschen oder sterben durch Terroranschläge. Die Probleme sind längst nicht gelöst, konstatiert auch Harari. Und selbst wenn wir bisher Fortschritte gemacht haben – könnte der Pessimist einwenden –, wieso soll das für die nächsten Jahre gelten?

Die Furcht vor der Zukunft hat neben den tatsächlichen Herausforderungen zwei Ursachen: die exponentielle Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts und das Gefühl des Kontrollverlusts, das damit einhergeht. 

Die Innovationszyklen haben sich drastisch beschleunigt. Jahrhunderte reisten die Menschen mit Pferd und Kutsche, dann Auto, Flugzeug, Space Shuttle, selbstfahrende Maschinen, bald geht es zum Mars. Erst hämmerten die Menschen Geschichten in Steintafeln, dann Briefe, Buchdruck, Telefon, Fax, E-Mails, Whatsapp, Facetime, und nun sprechen wir mit Siri und Alexa. Dabei kam das iPhone erst vor zehn Jahren auf den Markt. Wer kann bitte Stopp drücken? 

Kann niemand. Weil wir alle, alle mitmachen. Wir ergoogeln uns die Welt, kaufen auf Amazon, bezahlen mit Paypal, fahren mit Uber, treffen Freunde auf Facebook, lernen sie auf Tinder kennen und reisen mit ihnen in Airbnb-Apartments. Darum ist das Fuck you vor allem eines: die Leugnung des eigenen Tuns.  

Wer wirklich Stopp drücken will, müsste einem Alzheimer-Patienten erklären: „Wir könnten vielleicht helfen, wenn wir weiter forschen, machen wir aber nicht.“ Einem Todkranken sagen: „Sorry, ginge zwar, aber, äh, nein. Wir machen Pause.“ Die Menschheit hat das Penicillin entdeckt. Die Insulinpumpe, den Herzschrittmacher, das Cochlea-Implantat erfunden. Was für Errungenschaften! Manche davon machen uns bereits zu Cyborgs, zu Mensch-Maschine-Kopplungen. 

Natürlich soll das an dieser Stelle kein Freibrief für grenzenlose Forschung, Genmanipulation und freidrehende KI sein; wir brauchen in Politik, Gesellschaft und Unternehmen die Ethikdebatten, wie wir mit Technologie umgehen. Denn Musk meint kein Cochlea-Implantat, wenn er von Cyborgs spricht, sondern die Möglichkeit einer Verschmelzung des Denkens mit Daten; nur so könne die Menschheit mit Künstlicher Intelligenz mithalten. 

Ob KI gut oder böse ist, wurde er im selben Vortrag gefragt und antwortete: beides. Was für jede Technologie gilt, die die Menschheit erfunden hat. Das Messer zum Beispiel, mit dem wir Gemüse schneiden und töten können. 
Früher glaubten die Menschen, dass zerstörte Weizenfelder und Seuchen eine himmlische Strafe seien. Heute haben wir in diesen Fällen Gott abgeschafft. Wir machen Menschen verantwortlich, wenn sie nicht rechtzeitig vor einem Tsunami warnen oder Krieg anzetteln. 

Wir haben es in der Hand, wie wir mit Technologie umgehen. „Wenn wir die Errungenschaften der Vergangenheit anerkennen, dann erwächst daraus eine Botschaft der Hoffnung und der Verantwortung, die uns zu noch größeren Anstrengungen in der Zukunft ermutigt“, schreibt Harari, der uns gar auf dem Weg zu einer Art Göttlichkeit sieht. Er meint nicht Allmacht, sondern eher die Superhero-Power griechischer Götter, die ihre Gestalt wandeln, mit hoher Geschwindigkeit reisen, aus der Ferne kommunizieren, das Wetter verändern und ewig leben konnten. „Die Menschen sind gerade eifrig dabei, diese Fähigkeiten zu erlangen und darüber hinaus noch ein paar mehr.“

Noch nie sei die Menschheit gottähnlicher gewesen, schreibt auch New York Times-Kolumnist Thomas Friedman in seinem Buch Thank you for being late. An Optimist’s Guide to Thriving in the Age of Accelerations. Seit Hiro­shima wüssten wir, dass ein Staat alles zerstören kann. Heute lebten wir in einer Welt, in der nur eine durchgeknallte Person die Menschheit ausrotten kann. Aber auch in einer, in der die kollektive Willenskraft aller jeden Einzelnen retten könne, vor Hunger, Krankheiten, Klimawandel. 

Wer mit Zuversicht in die Zukunft startet, wird eher Erfolg haben als der Pessimist. Solange er  nicht übermütig wird!

Welchen Weg werden wir gehen? Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Ist die KI dem Menschen ein Wolf, wenn wir sie loslassen, und sie sich verselbstständigt? Oder schaffen wir es, unser Miteinander trotz Siegeszug der Daten menschlich zu gestalten?   

Je technologischer die Welt wird, desto fester müssen unsere Werte sein. Friedman plädiert für die Goldene Regel als Basis: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Einen radikalen Humanismus fordert Tim Leberecht, Autor des Buches Business Romantiker. „Wir müssen die Illusion von computational ethics, eines objektiven, auf Daten basierenden ethischen Programms, das Entscheidungen trifft, zurückweisen und unsere traditionelle menschliche Ethik stärken, vor allem unsere Moral und unser Einfühlungsvermögen, um KI zu beherrschen“, fordert er in seinem Essay The real moonshot of our time. Er endet mit: „Yes, you may call me a romantic.“

Der letzte Satz zeigt das Problem des Optimisten. Schnell gilt er als romantisch oder naiv und muss sich gegen die Propheten des Untergangs verteidigen. Dabei wird der Blick in die Zukunft ab einem gewissen Zeitpunkt zwangsläufig zur Glaubensfrage, weil wir die Zukunft in Wahrheit nicht kennen. Die einen halten am humanistischen Weltbild der Aufklärung fest. Andere, wie Harari, sagen eine Zeit voraus, in der sich nur die Reichen eine Übermenschen-Optimierung leisten können.

In dieser Welt steht nicht der Mensch, sondern Daten im Mittelpunkt. Techno-Religion statt Humanismus. Aber Harari sagt eben auch: „Wir können die Zukunft nicht wirklich vorhersagen.“ Jetzt, in diesem Augenblick, verhält sie sich wie ein Teilchen im Quantencomputer. Sie ist null. Und eins. Wir müssen sie im richtigen Moment festhalten. Da kann nur der Optimismus helfen. Denn wer mit Zuversicht in die Zukunft startet, wird eher Erfolg haben als der Pessimist. Solange er nicht übermütig wird. 

In ihrem Ted Talk The Optimism Bias erläutert die Neurowissenschaftlerin Tali Sharot die Idee anhand eines Pinguin-Cartoons. Die Tiere stehen an einer Klippe, die pessimistischen springen nicht, sie können nicht fliegen. Die übermütigen stürzen sich hinab und schlagen auf. Ein Pinguin allerdings glaubt, dass er es trotzdem schafft – und segelt mithilfe eines Fallschirms hinunter. 

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Zuversicht plus der richtige Umgang mit Wissen sind die entscheidenden Faktoren. Darum ist dies auch kein Plädoyer für einen naiven, sondern für einen realistischen Optimismus, der sich der Wucht der Veränderungen bewusst ist. An unserer Klippe ist es weder eine Option, ängstlich zu verharren, noch eine gute Idee, übermütig zu springen. Um sanft in das neue Zeitalter zu gleiten, brauchen wir einen Optimismus, der uns ermöglicht, Fallschirme zu erfinden. Denn ja, die Herausforderungen sind gewaltig wie nie zuvor in der Geschichte. 

Aus heutiger Sicht jedenfalls. Kann gut sein, dass in 50 Jahren das erwachsene Ich des dreijährigen Jungen im grünen Wollpulli in ein Technikmuseum geht – und auf die Ideen des Jahres 2017 genauso nostalgisch, fasziniert und belus­tigt blickt, wie wir heute auf die Erfindung des Wählscheibentelefons oder Roboter Tim. 

Lest außerdem: Wir werden alle sterben! Trump liefert den Stoff für die Apokalypse von Dirk Peitz. Der WIRED-Redaktionsleiter glaubt im Gegensatz zu Nikolaus Röttger nicht an ein Happy End.

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