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Wie eine App helfen soll, die Seenotrettung im Mittelmeer zu koordinieren

von Chris Köver
Mehr als 5000 Menschen sind im vergangenen Jahr bei der Flucht über das Mittelmeer ertrunken – so viele wie nie zuvor. Die Europäische Union konzentriert sich seit 2015 trotzdem auf die Sicherung ihrer Außengrenzen. Das Retten von Menschenleben übernehmen seither vor allem zivile NGOs. Eine App soll jetzt dafür sorgen, dass diese sich untereinander besser abstimmen können – und das tödliche Chaos zwischen Libyen und Italien zumindest etwas übersichtlicher wird.

Ruben Neugebauer ist eines der Gründungsmitglieder des Peng Collective, das vor kurzem erst wieder mit einer Falschmeldung zur CDU und Rüstungspolitik sehr erfolgreich internationale Schlagzeilen machte. Die App namens #safepassage, die Neugebauer heute auf der Netzkonferenz re:publica vorstellt, ist allerdings ganz und gar kein Scherz. Im Gegenteil, es geht dabei um Leben und Tod.


Seit zwei Jahren arbeitet Neugebauer hauptberuflich für die Organisation Seawatch, eine von mehreren spendenfinanzierten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die Menschen auf der Flucht nach Europa aus dem Mittelmeer rettet.

Ursprünglich, erzählt Neugebauer, wollten Seawatch und andere NGOs mit ihren Schiffen nur als unabhängige Beobachter im Mittelmeer kreuzen, um den Druck auf die Europäische Union zu erhöhen. Sie sollte ihre Anstrengungen zur Seenotrettung, die mit dem Ende der Operation Mare Nostrum im Oktober 2014 weitgehend abgehakt waren, wieder aufnehmen. Der Plan ging allerdings nicht auf. „Die EU hat sich mehr oder weniger aus der Seenotrettung zurückgezogen“, sagt Neugebauer.


Die EU hat sich mehr oder weniger aus der Seenotrettung zurückgezogen

Ruben Neugebauer

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex rettet mit ihren Militärschiffen im Mittelmeer zwar nach wie vor Tausende Menschen. Allerdings ist das eher ein Nebeneffekt. Die eigentliche Aufgabe von Frontex ist die Sicherung der EU-Außengrenzen – und diese steht bei der Mission Triton, dem Nachfolger zu Mare Nostrum, im Vordergrund. Hinzu kommt seit dem Sommer 2015 noch die Mission Sophia, deren Ziel es ist, den „Menschenschmuggel im Mittelmeer zwischen Libyen, Tunesien und Italien“ zu bekämpfen. Das tut Sophia, indem sie Schmugglerboote abfängt, die Insassen interviewt und die Boote zerstört. Die Rettung ist wieder nur ein Nebeneffekt.

Die Konsequenz: Die etwa zehn Boote der freiwilligen Rettungsorganisationen, die derzeit im Mittelmeer kreuzen, sind keine Beobachter, sondern in vielen Situation die faktisch einzige Rettungsflotte. Die Unterstützung, etwa der italienischen Küstenwache oder deutscher und spanischer Militärschiffe, sei eher sporadisch, sagt Neugebauer.


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Zehn Boote, wenn nicht gerade eines in der Werft ist, das ist sehr überschaubar. Wenn wie zuletzt am Osterwochenende bis zu 1000 Leute gleichzeitig auf dem Wasser sind, geraten die NGOs damit schnell an die Grenzen ihrer Kapazität – oder darüber hinaus. Die Crew eines maltesischen Rettungsbootes brach an diesem Wochenende nach 40 Stunden Dauereinsatz zusammen. Das kleine Rettungsschiff Iventa der deutschen Organisation Jugend Rettet geriet vor der Küste Libyens in Seenot, es war überladen mit Flüchtlingen. Und seit die EU sich aus diesem Gebiet zurück gezogen hat und kaum noch staatliche Rettungsschiffe vor Libyen patrouillieren, können die Ehrenamtlichen kaum noch mit Unterstützung rechnen.


Die Retter kommunizieren untereinander – derzeit vor allem via Funk, Satellitentelefon und E-Mail. Allerdings fehlt eine Gesamtübersicht über die oft chaotische Situation – die dringend notwendig wäre, um schnell die richtigen Entscheidungen treffen zu können: Wo ist welches Boot und wer kann hin?

Die soll die App #safepassage jetzt bieten, eine Art Übersichtskarte der Dringlichkeit. Alle zivilen Rettungsschiffe im Einsatz haben die Möglichkeit, darin Boote in Seenot zu melden, ebenso das Suchflugzeug der ehrenamtlichen Organisationen. „Man kann dann erkennen: Was ist das für ein Boot?“, erklärt Neugebauer. „In welchem Zustand ist es? Wie viele Leute sind darauf?“ Neu entdeckte Boote sind in der Übersicht erst rot markiert. Ist bereits ein Rettungsteam beim Boot, wird es grün angezeigt. Das Programm kennt auch die Rettungsboote und ihre Kapazitäten. „Es kann dann ausrechnen: Das ist die Seawatch 2, die fährt 10 Knoten, und kann so und so schnell vor Ort sein.“ So erkennen alle Akteure schnell, was im Einsatzgebiet los ist und wo die Unterstützung am dringendsten gebraucht wird.

Diese Differenzierung ist dringend notwendig. „Die Boote, die wir sehen, sind alle in einem Zustand, dass sie Italien nicht erreichen würden“, sagt Neugebauer. „Trotzdem gibt es noch einen Unterschied zwischen dem Boot, auf dem gerade 150 Leute dehydrieren, wo die Situation aber für die nächste Stunde noch stabil ist und dem, wo Leute bereits im Wasser oder vielleicht schon ertrunken sind.“ Diese Fälle bekommen die Retter bisher nicht auseinander dividiert. In der Kommunikation auf so vielen Kanälen gingen nicht nur Informationen verloren, sondern auch Zeit, entscheidende Minuten.

Mit der App sollen Entscheidungen schneller und besser getroffen werden können. Ein Rettungsschiff würde dann nicht unbedingt zu dem Boot fahren, das gerade schon in Sichtweite ist, sondern dorthin, wo es seine Kapazitäten am sinnvollsten einsetzen kann, so das am Ende die meisten Menschen gerettet werden können.

Seawatch beschäftigt zwei Entwickler, die neben der App die komplette IT der Organisation betreuen. Der Großteil des Programmcodes stammt allerdings von Ehrenamtlichen. Nachdem Neugebauer das Projekt auf dem Neujahrskongress des Chaos Computer Clubs vorgestellt hatte, meldeten sich viele, die helfen wollten. In mehreren Hackathons entwickelten sie das Programm, das jetzt nicht nur die NGOs, sondern auch die italienische Rettungsleitstelle zusätzlich zu seinen Systemen nutzen kann.


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Neben Seawatch und Jugend Rettet sind auch Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer aktiv. Zuletzt wurden die NGOs für ihre Arbeit jedoch von Politikern scharf angegriffen. Fabrice Leggeri, Chef von Frontex, sagte in einem Interview mit der Welt, die Rettungsaktionen führten dazu, dass Schleuser mehr Menschen in immer seeuntauglichere Boote setzten, die Seenotrettung sollte daher generell auf den Prüfstand gestellt werden. Die Bundesregierung griff diese Aussage auf und interpretierten sie noch weiter: Sie warf den Organisationen vor, sie leisteten mit ihrer Arbeit Beihilfe zur Schlepperei, ermutigten Menschen zur Flucht über das Mittelmeer und sorgten so schließlich nicht für weniger, sondern mehr Tote.

Unabhängige Untersuchungen können diese „Anziehungshypothese“ jedoch nicht belegen, im Gegenteil. Der Soziologe Rob Gruijers und der Migrationsforscher Elias Steinhilper verglichen die Zahl der Ankünfte und Todesfälle zu verschiedenen Phasen über die vergangenen Jahre und stellten fest: Wenn nicht oder weniger gerettet wird, führt das nicht zu weniger Migration. Es macht die Überfahrt lediglich gefährlicher.

So sind während der Mission Mare Nostrum – dem Vorgängerprogramm von Triton, das im Oktober 2014 auslief – 45.446 Flüchtlinge angekommen und die Todesrate lag bei etwa eins zu 49. Während der ersten Phase der Operation Triton, als wesentlich weniger Geld und Kapazität in die Seenotrettung floss, stieg die Zahl der Menschen, die in der EU ankamen, dagegen auf 63.637 Menschen – und einer von 36 starb bei der Überfahrt. Derzeit sind die EU-Rettungsbemühungen auf ein Minimum heruntergefahren. Trotzdem kamen laut laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk von Januar bis Mitte April 2017 bereits 40.000 Menschen über das Mittelmeer, weit mehr als im Vorjahr. Menschen in größter Not lassen sich also offenbar von einem höheren Risiko nicht davon abhalten, die gefährliche Reise auf sich zu nehmen. Sie riskieren lieber ihr Leben.

WIRED ist Medienpartner der re:publica 2017 und berichtet hier vom 8. bis 10. Mai live von der Konferenz in Berlin.


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