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Wie Gaming Hoffenheimer Fußballprofis schneller macht

von Dirk Peitz
Kurz vor Ende der Bundesligasaison ist die TSG Hoffenheim Tabellendritter. So gut stand der Fußballclub, dessen Mäzen der SAP-Mitgründer Dietmar Hopp ist, noch nie da. Könnte das auch damit zusammenhängen, dass die Hoffenheimer Spieler einfach schneller im Kopf sind als viele ihrer Konkurrenten? WIRED hat den Sportpsychologen des Teams gefragt.

Julian Nagelsmann will seine Hoffenheim-Profis nicht nur körperlich fit halten, sondern auch ihren Geist zu trainieren. Dafür lassen der jüngste Coach der Bundesliga und sein Betreuerteam sie Games spielen, unter anderem sogenannte Brain-Apps. Wie und ob das funktioniert, erklärt Jan Mayer, der Sportpsychologe des Teams, im WIRED-Interview.

WIRED: Herr Mayer, Sie arbeiten bei der TSG Hoffenheim als Sportpsychologe sowohl der Bundes- als auch Regionalligamannschaft – und lassen deren Spieler unter anderem Games zocken. Wieso und was bringt das?
Jan Mayer: Das Kernthema der Sportpsychologie ist, Sportler beim Funktionieren unter Druck zu unterstützen und darin, Leistung zu bringen, wenn es darauf ankommt. Dafür gibt es spezifische Trainingsverfahren, die alle wissenschaftlich etabliert sind. Mein Arbeitsfeld umfasst zudem den direkten Umgang mit Mannschaften, Teamentwicklung, coach the coach… Das ist das klassische Programm eines Sportpsychologen, und mit diesen Grundideen bin ich auch bei der TSG Hoffenheim angetreten. Recht bald sagte dann aber ein Torwarttrainer zu mir: „Das ist alles sehr spannend, aber ich hätte da mal ein Anliegen – könntest du mir die Spieler schneller im Kopf machen?“ Das fällt natürlich in meinen Zuständigkeitsbereich, aber richtig damit beschäftigt hatte ich mich noch nicht. Daraufhin habe ich mich intensiv damit auseinandergesetzt, welche Funktionen im Gehirn angesprochen und durch Training womöglich beschleunigt werden könnten. Man kommt dann recht schnell auf das, was man die Exekutivfunktionen des Gehirns nennt: das bewusste Denken, das Entscheiden, das Abwägen, die Informationsverarbeitung, das Arbeitsgedächtnis.

WIRED: Wie gut sind diese Exekutivfunktionen erforscht?
Mayer: Tatsächlich wurden die Exekutivfunktionen schon früh bei den Menschen untersucht, die in dem Bereich Defizite aufweisen. Seit etwa 2009, 2010 gibt es Trainingsprogramme als Apps, die versprachen, dass ihr Gebrauch insbesondere im unteren Leistungsbereich, das heißt etwa bei Demenzkranken, weitere Verschlechterungen durch Gehirntraining aufhalten können – oder bei Kindern mit Lern- oder Konzentrationsschwäche die Leistungen zu steigern. Unsere Frage war dann: Könnten diese Apps also auch bei Profifußballern, die keine dieser Defizite haben, zu einer Leistungssteigerung führen? Ein glücklicher Zufall hat uns bei der Beantwortung der Frage geholfen, denn zur gleichen Zeit veröffentlichte eine internationale Wissenschaftlergruppe eine Studie, die feststellte, dass Action-Videogaming positive Auswirkungen auf die Exekutivfunktionen des Gehirns hat: etwa auf das Arbeitsgedächtnis, die Objektverfolgung, die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit. Das sind alles Punkte, die auch für Fußballspieler relevant sind. Und so bekam unsere Überlegung, Profis mit Tablet-Games zu trainieren, eine wissenschaftliche Basis.

Wir wurden belächelt, haben uns aber nicht beirren lassen, weil wir an den Zahlen sehen konnten: Die Exekutivfunktionen der Spieler verbesserten sich

Jan Mayer

WIRED: Traf es sich da auch gut, dass es durch Dietmar Hopp, den SAP-Mitgründer und Mäzen der TSG, sehr direkte Möglichkeiten gab, eigene Apps bauen zu lassen?
Mayer: Wir haben teilweise tatsächlich gemeinsam mit SAP eigene Apps entwickelt und gleichzeitig schon auch auf bereits vorhandenen Apps gespielt. Wir wurden erst ein wenig belächelt dafür, haben uns aber nicht beirren lassen, weil wir an unseren Zahlen sehen konnten: Die Exekutivfunktionen unserer Spieler verbesserten sich. Es gab unterschiedliche Responder-Qualitäten, beim einen ergaben sich größere Sprünge, beim anderen kleinere. Doch es war eindeutig eine Leistungssteigerung zu erkennen. Und eine weitere Studie stützte unsere Vorgehensweise: Der schwedische Psychologe Torbjorn Vestberg hat nachgewiesen, dass man die individuelle Qualität eines Fußballspielers auch anhand seiner Exekutivfunktionen messen kann.

WIRED: Neben Tablet-Apps, die Sie benutzen, gibt es in Hoffenheim noch einen speziellen Raum, in den Sie die Spieler schicken. Was hat es damit auf sich?
Mayer: Eine meiner Fragen an SAP war, ob man nicht auch eine Umgebung schaffen könnte, in der man konkrete Spielsituationen simulieren und damit im Gegensatz zu Tablet-Apps auch räumlich erfahrbar machen kann. So könnte man das periphere Sehen miteinbeziehen, das auf dem Platz eine erhebliche Rolle spielt. Da hatten wir erneut Glück, weil bei SAP damals gerade eine 180-Grad-Präsentationsumgebung eine neue Verwendung suchte, auf die man Bildinhalte per Beamer projizieren kann. Diese sogenannte Helix benutzen wir mittlerweile: Darauf können wir Avatare platzieren, wie man sie auch aus den FIFA-Games kennt – und so mit den Spielern die sogenannte Objektverfolgung trainieren, die sich auf das Passverhalten positiv auswirkt. Diese 180-Grad-Helix ist bislang einmalig auf der Welt und zwar noch nicht ganz 3D, hat jedoch den Vorteil gegenüber einer Virtual-Reality-Anwendung, dass man keine VR-Brille tragen muss und so die Wahrnehmung der Spieler wesentlich realistischer trainieren kann.

 

WIRED: Haben Sie VR-Brillen denn schon mal ausprobiert bei Ihren Spielern?Mayer: Rein technisch können wir alles, was wir in der Helix durchführen, auch auf einer VR-Brille spielen lassen. Nur hat man eine solche beim realen Fußballspiel nun mal nicht auf – da gibt es also ein Transferproblem zwischen Übung und tatsächlicher Wettkampfsituation. Der Vorteil von VR aber ist, dass man sie überallhin mitnehmen kann, während unsere Helix fest in Hoffenheim steht. Bestimmte Übungen, die etwa das Entscheiden oder Merken betreffen, kann man auch mit einer VR-Brille durchführen. Also packt man den Spielern eine VR-App mit entsprechenden Inhalten auf ihre Handys, und die können sie dann mit einem simplen VR-Cardboard vor den Augen überall spielen und trainieren.

WIRED: Ist die große Kunst eines Fußballspielers, genau die von Ihnen angesprochene Objektverfolgung zu beherrschen – also den Ball und die Mit- und Gegenspieler in deren Bewegungen auf dem Platz so vorauszusehen, dass er mit seinem nächsten Pass die Spielsituation möglichst optimal auflöst?
Mayer: Das nennt man Vororientierung – der Spieler weiß, wo sich Mit- und Gegenspieler im Raum aufhalten und wohin sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bewegen werden. Die wenige Zeit, die er am Ball hat, sollte er so nutzen, dass er möglichst ungestört bleibt und den Ball optimal weiterpassen oder aufs Tor schießen kann. Wir können nun die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit des einzelnen Spielers erfassen, das dafür angewandte Verfahren nennt sich Wiener Testsystem. Die Ergebnisse unterscheiden sich mitunter erheblich: Manche Spieler brauchen für eine einfache Reaktion ohne jegliche Abwägung oder Entscheidung 0,75 bis 0,8 Sekunden, andere nur 0,5 Sekunden. Die Diskrepanz von bis zu 0,3 Sekunden ist ein gigantischer Zeitraum, wenn man bedenkt, wie sehr sich das Spiel beschleunigt hat in den vergangenen Jahren. Bei der Fußballnationalmannschaft wurden dazu durchschnittliche Kontaktzeiten der Spieler am Ball gemessen: Beim Confed Cup im Jahr 2006 lagen sie noch deutlich über zwei Sekunden, während sie bei der Weltmeisterschaft 2014 in der Regel bereits unter einer Sekunde lagen. Die Exekutivfunktionen der Spieler sind heute also umso gefragter, sie müssen sehr viel schneller als früher entscheiden, wie sie einen Ball weiterverarbeiten.

Was wir schneller machen wollen, sind nicht die unbewussten, sondern die bewussten Vorgänge: Wenn der Spieler sich taktisch verhalten, eine konkrete Entscheidung fällen muss

Jan Mayer

WIRED: Braucht es dafür das, was Sportreporter „Intuition“ nennen würden?
Mayer: Intuition meint etwas, das so lange gelernt ist, dass es irgendwann ins Unterbewusstsein gewandert ist und für das wir keine Kapazitäten des bewussten Denkens mehr aufwenden müssen. Das Unterbewusste ist viel schneller als das bewusste Denken und regelt extrem viele unserer Handlungen, manche Experten sagen bis zu 90 Prozent. Auf den Fußballer übertragen ist Intuition die Menge von unbewussten Handlungen, die ein Spieler während seiner Sozialisation auf dem Platz so oft wiederholt hat, dass er über sie nicht mehr nachdenken muss. Was wir nun aber schneller machen wollen, sind nicht diese unbewussten, sondern die bewussten Vorgänge: Wenn der Spieler sich taktisch verhalten, eine konkrete Entscheidung fällen muss.

WIRED: Warum sind Spieler dabei unterschiedlich schnell?
Mayer: Man nimmt an, dass es ein wichtiges Kriterium zu sein scheint, in welcher Umgebung jemand als Kind aufgewachsen ist. In der Großstadt gibt es mehr und schnellere Reize, die das Gehirn verarbeiten muss und es vor Entscheidungen stellen, als auf dem Land. Solche Reize sind auch mit denen vergleichbar, auf die beim Gaming gesetzt wird. Es mögen manche Menschen anders sehen, aber ich betrachte es aus meiner Erfahrung als nicht schädlich, wenn Kinder in einem begrenzten und kontrollierbaren Maße, mit klarem Anfang und klarem Ende, durchaus mal Videogames spielen.

WIRED: Können Sie aus Ihrem Trainingsalltag sagen, wie viel und wie lange solche Reize etwa durch Gaming zu einer Verbesserung bei Spielern führen? Nutzt sich dieser Effekt ab? Oder behält das Gehirn die höhere Entscheidungsgeschwindigkeit bei, die durch Gaming erzielt wird?
Mayer: Aus meiner Erfahrung heraus hält sich der Effekt relativ lange. Wenn die Spieler aus der Sommerpause zurückkommen und unsere Apps längere Zeit nicht benutzt haben, dann fallen sie trotzdem nicht mehr auf das Niveau zurück, wie vor dem Beginn dieses Kopftrainings. Sie bleiben ungefähr auf dem Level, das sie zuvor erreicht haben. Das stimmt uns zuversichtlich, dass dieses Training einen stabilen Effekt hat.

WIRED: Gibt es aber auch den des Übertrainierens, wie man ihn vom ganz normalen Muskelapparat kennt, wo Gewichtepumpen irgendwann keinen Nutzen mehr bringt?
Mayer: Wenn die Spieler zum Gamen kommen, dann wird nur eine begrenzte Zeit gespielt. Würde man ohne Pause weitermachen, verlöre sich der Trainingseffekt tatsächlich, womöglich gäbe es sogar einen negativen. Die Dosierung ist extrem relevant. Wir setzen auf relativ kurze Übungen, bei denen die Spieler ans Maximum ihrer Leistungskraft gehen. Wenn sie diese Höchstleistung bei einer Wiederholung nach drei Minuten nicht mehr erreichen, dann schaffen sie es auch nach einer Viertelstunde nicht mehr. Dann ist es nicht sinnvoll, an der Stelle weiter zu trainieren.

WIRED: Bleibt das Tempo im Kopf der Spieler eigentlich über die Länge eines ganzen 90-minütigen Fußballspiel konstant? Oder gibt es durch die körperliche Anstrengung nicht auch eine Ermüdung, die das Gehirn betrifft?
Mayer: Wir untersuchen gerade das sehr komplexe Thema „mentale Ermüdung“. Als nur schwer überprüfbar stellt sich zum Beispiel der Zusammenhang mit der Geschwindigkeit der Exekutivfunktionen heraus – man hat ja nicht ohne weiteres Testpersonen zur Verfügung, die sich körperlich gerade im Zustand etwa der 80. Minute eines Fußballspiels befinden. In unserem Footbonaut, einer Ballwurfmaschine, ließen wir Regionalligaspieler 45 Minuten lang simulieren, mit 400 Bällen. Nach dieser Einheit, waren die Spieler körperlich erschöpft. Aber, das konnten wir feststellen, nicht unbedingt langsamer in ihren Exekutivfunktionen. Der entscheidende Punkt ist: Sie machen erheblich mehr Fehler. Interessant ist, dass man diesen Effekt vom Beobachten eines Spiels kennt: Die Profis werden von außen betrachtet nicht langsamer im Kopf, aber die Anzahl der Fehlentscheidungen steigt mit zunehmender Spieldauer. Sie denken zum Beispiel über eine Handlung nicht mehr wirklich nach, dadurch entstehen Fehler.

Wir fragen uns: Wie können wir die Spieler dazu bringen, trotz Ermüdung auch in der Schlussphase des Spiels noch die richtigen Entscheidungen zu treffen?

Jan Mayer

WIRED: Wäre dann also das Entscheidende, bei den Spielern die Fehlerquote auch nach längerer körperlicher Belastung zu minimieren? Damit sie keine Fehler begehen, die zu späten Gegentoren führen, und umgekehrt Fehler des Gegners ausnutzen können, weil sie dazu mental besser in der Lage sind? Doch wie bekäme man das hin?
Mayer: Stellen Sie mir diese Frage in zwei Jahren noch mal. Denn das ist eine konkrete Forschungsfrage, mit der wir uns aktuell zusammen mit der Universität des Saarlands befassen. Wir wollen erfahren, wie sich mentale Ermüdung zeigt, und wie sie von der körperlichen zu trennen ist. Offensichtlich ist ja, dass es Fußballspielern in den ersten Spielminuten erheblich leichter fällt taktische Disziplin umzusetzen, die mit bewusstem, anstrengendem Denken zu tun hat, als später im Spiel. Also fragen wir uns nun: Wie können wir die Spieler durch bestimmte Trainingsmaßnahmen dazu bringen, trotz Ermüdung auch in der Schlussphase eines Spiels noch die richtigen Entscheidungen zu treffen? Dazu wurden Testpersonen im Footbonauten gezielt ermüdet, um sie dann anschließend etwa am Tablet oder in der Helix kognitive Aufgaben lösen zu lassen.

WIRED: Wie verhält es sich mit der mentalen Ermüdung ohne körperliche Anstrengung? Denn das wäre ja die typische Gamer-Situation zu Hause im Wohnzimmer: Man sitzt und daddelt. Flacht auch da die Geschwindigkeit der Exekutivfunktionen ab – fällen also auch Gamer ab einem gewissen Zeitpunkt vermehrt falsche Entscheidungen?
Mayer: Zunächst mal gibt es wie bei allem anderen auch da ein individuelles Maß der optimalen Beanspruchung. Man kann die Fähigkeit trainieren, möglichst lange in diesem, für einen selbst optimalen, Bereich zu bleiben. Doch es kommt auch auf das Game an, das man spielt – welche Anforderungen stellt es an einen, wie ist der Ablauf? Gaming-Forscher fordern ja beispielsweise, Pausen vorzusehen und die Figur, die man spielt, unter anderem der Konstitution, dem Alter und dem Bildungsgrad des Spielers anpassen zu können. Es ist jedenfalls so, dass Gamer während des Spielens irgendwann in einen Bereich der permanenten Überforderung kommen, in dem sie nicht mehr dauerhaft gut funktionieren können. Nicht nur im Sport, sondern in allen Beanspruchungssituationen ist es relevant, Pausen zu bekommen und einen klaren Anfang und ein klares Ende festzulegen.

WIRED: Und wie steht es um die Übertragbarkeit Ihres Kopftrainings auf Hobbyfußballer – könnte man als solcher seine Leistung durch Brain-Apps auch steigern?
Mayer: Wir machen gerade Tests mit Mitgliedern von Fitnessstudios. Sie erhalten eine kostenlose App von uns und spielen diese dann vor und nach einer körperlichen Belastung. Zu den Auswertungen werden wir bald mehr wissen. Eine Leistungssteigerung auf dem Fußballplatz hingegen ist insofern komplizierter zu erzielen, als dass sie von sehr vielen Einzelkomponenten abhängt – und kicken sollte man schon können. Wenn ich den Ball nicht ordentlich stoppen kann, ist es völlig egal, wie früh ich ihn kommen sehe und wie schnell ich eine Entscheidung im Kopf fälle, wie ich ihn weiterverarbeiten will. Dann springt mir der Ball einfach zu weit vom Fuß, und schon hat ihn der Gegner.

WIRED: Erst muss man kicken lernen, dann kommt der Kopf dran?
Mayer: Das ist auf jeden Fall die richtige Reihenfolge. Ich glaube schon, dass man als Hobbyfußballer kleinere technische oder motorische Mängel, durch die Verbesserung seiner kognitiven Leistungsfähigkeit ausgleichen kann. Fehlendes fußballerisches Talent aber leider nicht.

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